Die CEO ist weg.
Wenn es um Resilienz in Organisationen geht, schaue ich mir gerne Vorbilder aus der Natur an. Zum Beispiel bei den Honigbienen: Was passiert da eigentlich, wenn die CEO hinschmeißt?
Anders als in Unternehmen ist die Königin im Bienenstock die einzige fortpflanzungsfähige Biene. Sie legt täglich ein-, zweitausend Eier und sichert so den Bestand des Volkes. Ihr Sekret aus speziellen Pheromonen steuert die Arbeitsteilung der Arbeiterinnen.
Diese Duftstoffe halten das Volk zusammen und verhindern, dass Arbeiterinnen eigene Nachkommen anlegen. Eigentlich die perfekte patriarchale Unternehmens-Organisation, ein Traum für jeden Monarchen!
Mit ihrem Gelege bestimmt die Königin zugleich Wachstum und Größe des Volkes. Durch regelmäßige Eiablage hält sie das Netzwerk im Gleichgewicht. Ohne sie stagniert der Stock und gerät in Gefahr.

Fehlt die Königin, bricht das Regulationssystem sofort zusammen. Dann verliert der Stock seine gewohnte Struktur.
Puh, Stress!
Verliert ein Bienenstock seine Königin, fehlt sofort ihr Pheromon-Signal. Die Arbeiterinnen bemerken den Ausfall meist innerhalb weniger Stunden. Dann summen alle mega-gestresst: "KRISE!"
In dieser Phase hören viele typische Aufgaben auf. Pflegebienen wirken desorientiert, weil sie keine Brut mehr versorgen können. Die gewohnte Arbeitsteilung bricht vorübergehend zusammen.
Gelingt nicht schnell genug die Bildung einer neuen Königin, schrumpft das Volk.
Kybernetisch betrachtet ist das einfach: Keine Eier = kein Nachwuchs = Game over. Dann droht dem Stock der Untergang.
Pheromonmangel
Das Hauptpheromon der Königin heißt Queen Mandibular Pheromone (QMP). Es sorgt dafür, dass die Arbeiterinnen gehorchen und sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Fehlt dieses Signal, erkennen die Bienen sofort eine Notlage.
Ohne QMP beginnen sie, das Volk neu zu organisieren. Sie folgen dann einer Art "Notfallplan" und halten nach jungen Larven ausschau.
Der Verlust des Pheromons ist der erste Auslöser für alle folgenden Maßnahmen zur Krisenbewältigung. Es ist das unsichtbare (Duft-)Feld, das den Stock zusammenhält. Fehlt es, reagiert das ganze Volk mit kollektiver Aktivität.
Larvenwahl
Die Arbeiterinnen suchen gezielt Larven, die nicht älter als drei Tage sind. Warum? Nur die können mithilfe von Ernährung noch zu Königinnen heranwachsen. Ältere Larven sind dafür nicht mehr geeignet.
Dabei werden immer mehrere Larven werden als Kandidaten markiert, um das Risiko zu minimieren. Fallen einige aus, bleiben immer noch Alternativen. In der IT sichern wir uns mit Failover-Systemen ab.
Weiselzellen
Um jede ausgewählte Larve herum errichten die Bienen große, senkrechte Weiselzellen. Diese Zellen bieten Platz für das Wachstum der Königinnenlarve. Sie schützen und versorgen das heranwachsende Tier wie in einem 5-Sterne-Hotel inkl. ein paar tausend Butlern.
Die Zellen sind architektonisch so gebaut, dass sie gut isoliert und geräumig sind. Die Wände bestehen aus Wachs und passen sich der wachsenden Larve an. So entsteht ein perfekter Entwicklungsraum.
In jeder Weiselzelle reift eine mögliche Königin heran. Mehrere Zellen erhöhen die Sicherheit, dass wenigstens eine Larve überlebt. Das ist Teil der Strategie, Krisen zu bewältigen.
Gelee Royale
Gelee Royale ist ein eiweiß- und vitaminreiches Drüsensekret junger Ammenbienen. Es enthält spezielle Proteine und Aminosäuren, die in normalem Futter fehlen. Nur damit gefütterte Larven entwickeln sich zur Königin.
Andere Larven erhalten nur Pollen und Honig und wachsen zu Arbeiterinnen heran. Gelee Royale initiiert die volle Ausbildung der Eierstöcke und des königlichen Körpers. Es ist quasi das Schlüsselelement der Umwandlung.
Ich finde das eine interessante Analogie zum Menschen: Wenn wir ein Neugeborenes direkt nur mit FastFood und Mist füttern, nimmt es unter Garantie einen anderen Entwicklungsweg, als wenn es Muttermilch und später gesunde Nahrung bekommt. Allerdings ist mir kein Fall bekannt, in dem Nahrung "spezielle Funktionen" beim Menschen überhaupt erstmal ausbildet.
Die exklusive Ernährung mit diesem Superfutter ist ein wichtiger Faktor für die Resilienz des Systems.
Larve + Superfutter = Führungskraft!
Larve + Normales Futter = Arbeiterin!
Ich bekomme eine Idee, warum manche Menschen versuchen, solche Systeme auf den Menschen zu übertragen ...
Erbgut
Königin und Arbeiterin teilen dasselbe Erbgut. Entscheidend ist, welche Gene durch Ernährung aktiviert werden. Gelee Royale schaltet "königliche Entwicklungsprogramme" an, während normales Futter das verhindert.
Dieser epigenetische Mechanismus steuert Körperform, Funktionen und Lebensdauer. Er ermöglicht den Larven, sich je nach Fütterung verschieden zu entwickeln.
Durch diese Regulierung zeigt der Bienenstock eine gewisse Anpassungsfähigkeit. Er nutzt vorhandene Ressourcen optimal und bewältigt Krisen - allerdings ohne genetische Veränderungen.
Schlupf
Etwa 16 Tage nach der Eiablage bricht der Moment des Neuanfangs an. Die erste Jungkönigin schlüpft und eliminiert in den Zellen ihre Rivalinnen. Spätestens jetzt sollte man sich überleben, ob und wie sich das tatsächlich auf Organisationen übertragen lässt ...
Anschließend begibt sie sich auf den Hochzeitsflug und kehrt (idealerweise) begattet zurück. Dann beginnt sie sofort mit der Eiablage. Ihr Erscheinen beendet die Unruhe im Bienenstock; das stressige Summen (von ganz am Anfang) hört langsam auf.
Kybernetisch betrachtet ist das ganz interessant: Ein einzelnes Ereignis stellt die Ordnung wieder her.
Systemisch betrachtet, kann man sehen, dass nach der Krise geordnet weitergemacht wird. Das ist ein Indikator für Resilienz.
Wichtig: Es handelt sich um Resilienz, nicht um Antifragilität: Der Bienenstock wird durch diese Einwirkung nicht stärker oder robuster.
Rückkehr zur uralten Ordnung
Dann läuft alles wieder wie gehabt: Die neue Königin legt Eier und verbreitet ihr Pheromon im Stock. Die Arbeiterinnen kehren zu ihren Aufgaben zurück und das Summen beruhigt sich. Die gewohnte Arbeitsteilung stellt sich wieder ein.
Mit jedem Ei wächst das Volk wieder. Die Vorräte werden aufgefüllt und neue Arbeiterinnen schlüpfen. So baut sich der Stock nach der Krise neu auf.
So ein Bienenvolk kann also resilient sein: Nach einer Störung kehrt es zu einer stabilen Ordnung zurück. Die Gemeinschaft nutzt eingeschriebene Mechanismen, um das Überleben zu sichern.
Lass uns das auch so machen!
Oh, bitte nicht.
Bienen sind staatenbildende Insekten: Jede Biene folgt (genetisch determinierten) Regeln. Wir Menschen dagegen sind individuelle Wesen mit Eigeninteressen, kulturellen Normen und freiem Willen (naja, ein bisschen zumindest). Ein 1:1-Transfer würde an unserer Komplexität und Autonomie scheitern.
Und die Menschheitsgeschichte ist voll von Versuchen, so etwas umzusetzen ... die endeten alle ziemlich schrecklich.
Was wir dennoch lernen können: Das Prinzip der kollektiven Intelligenz, also z. B. dezentrale Entscheidungen, redundante Optionen und schnelle Neuorganisation. So etwas kann auch menschliche Teams stärken. Nicht übernehmbar sind jedoch die starren Rollen und das vollständige Unterdrücken individueller Ziele (auch wenn das nach wie vor noch Mode ist).
Wir brauchen höherdimensionale Systeme als eingeschriebene Automatismen: Reflexion, Meta-Moderation, Emotion, die Ratio und adaptive Feedback-Schleifen eröffnen Varianten, die weder in unseren Genen noch in Bienen-Pheromonen stecken.
Die systemische und kybernetische Gestaltung von Netzwerken, in die Menschen involviert sind, erfordern Intuition, Mathematik, den menschlichen Emotionsraum, Code, die Psychologie, Philosophie, die Ästhetik und so vieles mehr.
Damit können Strukturen geschaffen werden, die in neuen, bisher ungekannten Situationen funktionsfähig bleiben.
Die Menge an unerwarteten Situationen, die ein Bienenvolk überlebt, ist niedrig. Deshalb müssen wir sie vor unserer Unachtsamkeit schützen. Dafür wurden uns andere Fähigkeiten als den Bienen geschenkt - wir sollten uns nur bei Gelegenheit an sie erinnern.
Ich schmiede gemeinsam mit Menschen Werkzeuge für Systeme. »