Algorithmen
Soziale Netzwerke sind, kybernetisch betrachtet, mäßig komplexe Umgebungen, die durch Algorithmen gesteuert werden. Viele dieser Algorithmen basieren auf Feedback-Schleifen, zum Beispiel:
Ein Inhalt, der Engagement erzeugt, wird stärker promotet. Das erzeugt regelmäßig weiteres Engagement.
Anders als in klassischen Medien gibt es kaum wirksame negative Rückkopplung (Begrenzung, Korrektiv), da alles auf Wachstum ausgelegt ist. Die meisten sozialen Netzwerke optimieren sich auf maximale Interaktion, da damit grundsätzlich die höchste Impressionsrate zu erzielen ist – egal, ob dies inhaltlich sinnvoll ist oder nicht.
Auf diese -recht niedrigdimensional gesteuerte Weise- entsteht ein Überschuss an Signalen ohne effektive Filter. Wirkungsvolle Diskussionen und ausreichend Raum für Reflexion werden durch die Dynamik des ständigen „Höher-Schneller-Weiter“ verdrängt.
Insgesamt lässt sich diese Perspektive auf eine recht einfache Wechselwirkung herunterbrechen:
- Die Menge der verbrauchbaren Aufmerksamkeitskapazität in sozialen Netzwerken ist begrenzt.
- Erhält ein Element mehr Aufmerksamkeit, erhalten andere Elemente dafür weniger Aufmerksamkeit.
Illusionen durch Reichweite
Auf individueller Ebene erzeugt eine große Reichweite leicht die Illusionen von Kompetenz, Bedeutung, vielleicht sogar Einfluss:
Wer viele Follower hat, fühlt sich bestärkt, obwohl die tatsächliche inhaltliche Tiefe schon ab ein paar Dutzend Kontakten oft unklar bleibt.
Daraus entstehen oft kognitive Verzerrungen und meist eine systematische Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, insbesondere der eigenen realen Wirksamkeit.
(Wer jetzt entrüstet ist oder das schlichweg nicht glauben will: Bitte einen Menschen mit einer hohen Reichweite um einen Spendenaufruf für ein humanitäres Hilfsprojekt - und schau Dir die konkrete Wirksamkeit der bisher vielleicht "großartigen" Reichweite an.
(Anmerkung: Natürlich kann man nun herzlich argumentieren, dass das Whataboutismus sei - auf der anderen Seite gibt es ja genug einflussreiche Menschen, die mit wenigen Worten gigantische Spendensummen orchestrieren können. Vielleicht kristallisiert sich bereits hier eine erste feine Unterscheidung zwischen "Reichweite" und echtem "Einfluss" heraus.)
Gleichzeitig wird die Reichweiten-Illusion oft durch ein gewisses Maß an Unreflektiertheit und FOMO (Fear of Missing Out) zusätzlich verstärkt: Mensch will nichts verpassen, klickt und teilt unreflektiert. Diese verhaltenspsychologischen Hebel bedient das jeweilige System gerne gezielt, um Wachstumsziele zu erreichen.
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Gefährlich wird es, wenn hohe Reichweite als Bestätigung für inhaltliche Richtigkeit missverstanden wird und sich polarisierende Narrative verfestigen.
Reichweite als Antagonist von Authentizität, Sinnhaftigkeit und Tiefe
Reichweite ist nicht notwendigerweise Indikator für Relevanz oder ethische Qualität. Im Gegenteil - und es wäre müßig, hier Beispiele aufzuführen: Soziale Netzwerke sind voll davon.
Die Jagd nach „Mehr“ konkurriert mit einem suffizienten Umgang (Genug-Prinzip), bei dem es um das rechte Maß an Ressourcenverbrauch und Kommunikationsintensität geht. Ein extremer Fokus auf Reichweite kann Menschen in eine „Quantifizierungsfalle“ führen, in der sie ihre Existenzberechtigung über kurz oder lang aus Kennzahlen und Rankings ableiten.
Ein Social-Media-Berater mit weniger als 10k Impressions pro Beitrag? Kann nichts taugen!
Eine Social-Recruiting-Beraterin mit weniger als 10k Follower:innen? Ist sicher Anfängerin!