Kassenkind
Warum wir uns oft so verhalten,
wie wir es gelernt haben.
An der Kasse.
An bestimmten Orten verhalte ich mich wie ein typisches Kassenkind. Damit meine ich nicht das quengelnde Wesen, das sich angesichts 1.000 verführerischer Süssigkeiten in der Kassenzone auf den Boden wirft, weil es nicht alles haben darf. Ich meine den Ort, die Situation und die dort ablaufenden Rituale ... und wie all das mein Verhalten geprägt hat und dabei sicherlich auch Anteile meiner Persönlichkeit geformt haben.
Eine typische Situation im Supermarkt: An der Kasse. Ein Ort, an dem Kundinnen und Kunden in einer Reihe stehen, geduldig (oder ungeduldig) ihre Ware vor sich her schieben, bis sie den Kassentresen erreichen. Die Person, die kassiert, sitzt oder steht an ihrem Platz, scannt Waren, nennt die Preise, nimmt das Geld entgegen. Alles wirkt banal – und wenn man im Detail hinschaut, offenbart sich hier ein soziales System, das sich selbst reguliert und in dem sich sehr präzise Regeln für unser Verhalten herausbilden.
Der Vorgang an der Kasse ist stark ritualisiert und wiederholt sich täglich tausendfach. Von außen betrachtet, könnte man fast meinen, wir würden einen niedergeschriebenen, in der Schule gelehrten und gesetzlich mit drakonischen Strafen bewehrten Prozess befolgen:
- Kundschaft legt Ware aufs Band
- Kassierer:in scannt und nennt den Betrag
- Kundschaft bezahlt
- Kassierer:in bedankt sich
Das sieht vielleicht aus wie ein starres, dumpfes, prozessuales Abarbeiten. Aber es ist mehr. Viel mehr:
- Systemgrenze: Das „System Kasse“ unterscheidet sich dort von seiner Umgebung, wo sich Menschen bewusst in der Schlange einreihen, und endet mit der Unterscheidung, wenn die Person den Kassenbereich wieder verlässt. In diesem Bereich entfalten sich alle relevanten Interaktionen: Hier wird kommuniziert („Das macht dann 13 Euro 20“), Geld wechselt den Besitzer, Blicke und Gesten werden ausgetauscht.
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Strukturen und Normen: Unterschwellig existieren im Kassensystem zahlreiche Regeln – manche explizit, manche nur implizit. Zum Beispiel:
- Explizite Normen: Preisetiketten, Bon-Pflicht, der sichtbare Scanner, Schilder wie "Bitte hier anstellen" / "Bitte hier nicht mehr anstellen", Alkohol erst ab 12!
- Implizite Normen: Nicht vordrängeln; den freigewordenen Platz weiter vorn zügig einnehmen; niemanden ungeduldig anstarren wenn es mal länger dauert; Menschen mit nur einem Artikel vorlassen, wenn der eigene Einkauf umfangreich ist.
- Kommunikation als Taktgeber: Nach Luhmann entstehen soziale Systeme durch Kommunikation. Ich finde, das erkennt man an der Kasse besonders gut. Jeder Satz, jedes Nicken oder Stirnrunzeln hilft mit, das System „am Laufen“ zu halten.
Umfeld formt Verhalten
Das eigentliche Geheimnis der Kassensituation liegt darin, wie sich unser Verhalten formt. Manchmal reihen wir uns brav ein, manchmal reagieren wir gereizt – doch selten ist uns bewusst, welche Mechanismen dabei wirken. Ich nutze gerne das Ebenen-Modell, um die unterschiedlichen Perspektiven darauf zu erfassen und zu beschreiben. Hier sind vier davon (es gibt noch so viel mehr):
- Kulturelles Skript: Viele von uns kennen die Verhaltensweisen an der Kasse seit der Kindheit: Damals haben wir gelernt, dass man erst wartet, bis man dran ist, ohne laut zu protestieren oder sich vorzudrängeln. Das haben wir immer und immer und immer wieder erfahren. Dieses Skript prägt uns und läuft meist komplett unbewusst ab.
- Soziale Erwartungen: Das Kassensystem bringt einen gewissen Gruppendruck mit sich. Wir fürchten, negativ aufzufallen („Die Leute hinter mir sind bestimmt genervt, weil ich noch Kleingeld zähle“), und bemühen uns, möglichst reibungslos zu funktionieren. Für die meisten Menschen ist das Anstehen und Bezahlen an der Kasse ein lästiger und vor allem kein wertschöpfender Akt: Sie fühlen sich nicht produktiv dabei. Das kann einen großen inneren Druck erzeugen, der auch nach außen spürbar werden kann.
- Emotionale Anspannung: Obwohl die Kassensituation alltäglich erscheint, stehen wir körperlich dicht bei fremden Menschen. Man spürt Blicke oder hört Stöhner und Seufzer. Irgendjemand bumst mir mit dem Einkaufswagen mehrmals in die Hacke. Dieser kleine Raum kann schnell zum „Emotionsbeschleuniger“ werden. Wer gestresst ist, zeigt das in Mimik, Atmung, Geräuschen, Körperhaltung - von der kaum beschreibbaren oder gar messbaren Stimmung ganz zu schweigen.
- Die Person an der Kasse übernimmt eine zentrale Funktion. Oder besser formuliert: Sie erfüllt eine Rolle. Sie legt durch die Scangeschwindigkeit das Tempo fest, startet Gesprächsphasen ("Haben Sie eine Kundenkarte?", "Es fehlen noch 2 Euro.") und korrigiert Fehlverhalten ("Bitte hier richtig anstellen!", "Haltet den Dieb!"). Ihr Verhalten spiegelt die Anforderungen dieser Rolle wider: schnell, angemessen freundlich, konzentriert, strikt an festen Regeln orientiert. Nur wenige Menschen kämen zum Beispiel auf die Idee mit dieser Person -nein- mit der Person in dieser Rolle eine Diskussion über zum Beispiel die Angemessenheit der Preise zu diskutieren.
Es kann also vorkommen, dass wir unser Verhalten an die Rollen anpassen, die eine Person einnimmt:
Während wir uns bei der Person in der Rolle des Kassierers nüchtern-freundlich-korrekt verhalten, können wir nach Feierabend mit ein und derselben Person noch ein Bierchen saufen. Oder fünf. Oder eine Kiste.
Es kann auch passieren, dass wir unser Verhalten an die Atmosphäre im Raum anpassen:
Wenn man zum dritten Mal den Einkaufswagen in den Hacken bekommt und es ist ohnehin alles laut, Geschrei, hektisch und grell kann es vorkommen, dass man die Person hinter sich aggressiv anfaucht: "Noch ein Rempler und wir öffnen diese Dose Bohnen mit Deinem Hinterkopf!"
Wenn alles ganz entspannt ist und man nur zu zweit am Band steht, kann es auch zu einer einfachen Frage kommen: "Entschuldigen Sie bitte - sie rempeln mich vermutlich aus Versehen mit dem Wagen immer wieder an." - "Oh Entschuldigung, ich war in Gedanken Boxauto fahren!"
Unser Verhalten als Produkt aus Interaktion und Selbstorganisation
Aus systemtheoretischer Sicht erklärt sich, warum wir an der Kasse so handeln, wie wir handeln:
- Operative Geschlossenheit: Das Verhalten jedes Einzelnen ergibt sich nicht aus Befehlen „von oben“, sondern aus der jeweiligen Situation heraus. Zwar gibt es Vorgaben (z. B. wo die Kasse steht), aber ob die Kundschaft freundlich bleibt oder sich ärgert, ist weitgehend selbst organisiert.
- Wechselseitige Beeinflussung: Person an der Kasse nennt den Preis, die Kundin kramt im Geldbeutel, die Wartenden werden ungeduldig – jede Handlung löst neue Verhaltensweisen aus. Ein kleiner Moment wie das Suchen nach Kleingeld kann eine ganze Kette emotionaler Reaktionen hervorrufen: Wenn jemand hilflos im Geldbeutel nach Münzen kramt, alles herausfällt und auf dem Boden herunterrollt - und ausgerechnet das benötigte 2-Euro-Stück UNTER den Kassentresen rollt ... spätestens jetzt entsteht eine Bühne für filmreife Dramen: Wer rollt mit den Augen? Wer wendet sich ab? Wer wird wütend? Wer schimpft? Und wer öffnet einfach seinen Geldbeutel und legt die 2 Euro hin?
- Verhalten in Mustern: Häufige Beobachtung zeigt, dass es feste Abläufe (z. B. das Bezahlen) und wiederkehrende Reaktionsmuster (z. B. Ungeduld, wenn es stockt) gibt. Obwohl wir uns als Individuen empfinden, folgt Verhalten meist strikt einer Regelhaftigkeit.
Störungen des Systems als Lernfaktor
Schauen wir uns noch einen typischen „Störfall“ an: Vordrängeln. Was passiert dabei?
- Unterbrechung der impliziten Norm: "Bitte hinten anstellen!" ist eigentlich unausgesprochen klar. Wer dagegen verstößt, erzeugt sofortige Unruhe.
- Emotionale Reaktion: Die Wartenden fühlen sich benachteiligt, Ärger steigt auf.
- Kommunikation: Jemand ruft "Entschuldigung, wir waren zuerst!" oder "Hinten anstellen, Du Clown!", andere reagieren mit Blicken und Körpersprache.
- Sanktionierung: Das System reagiert mit spürbarer Ablehnung. Der "Störer" wird kritisch beäugt, vielleicht sogar zurechtgewiesen oder mit tödlichen Blicken ignoriert.
Die häufigste Reaktion auf derartige Störungen ist meist die Empörung:
Empörung ist ein starkes Gefühl, das auftritt, wenn unsere inneren moralischen Maßstäbe verletzt werden. Das sind zum Beispiel internalisierte Normen und Ideale, die wir in Kindheit und Sozialisation entwickeln. Spüren wir einen Bruch oder eine Verletzung dieser Normen, reagiert die Psyche mit Empörung, um die eigene seelische Integrität zu verteidigen. Empörung ist dabei funktional: Sie dient als Selbstschutz und bewahrt uns vor innerer Vereinnahmung durch von außen (oder von innen) übergriffig empfundene Handlungen oder Ansprüche. Durch das Ausdrücken von Empörung manifestieren wir unsere Grenzen und zeigen, dass wir bestimmte Werte hochhalten. Langfristig stärkt dies unsere Identität und ermöglicht, unbewusste Konflikte bewusst zu machen: Wir erkennen, was in uns verletzt wurde, und können daran wachsen.
Fazit: Warum wir an der Kasse (fast) immer wissen, was zu tun ist
Unser Verhalten an der Kasse folgt einem eingespielten Muster, das wir schon von Kindesbeinen an immer und immer wiederholt haben und durch tägliche Routine verfeinern. Wir richten uns an äußeren Merkmalen (Kassentisch, Warteschlange, Kassenband) und an inneren Regeln (Respekt, Geduld, Reihenfolge) aus.
Sobald etwas schiefläuft, greift das System korrigierend ein – durch Beschwerden der Wartenden oder Hinweise der Person an der Kasse – und stellt damit rasch den gewohnten Ablauf wieder her. Kurz gesagt: Unser Verhalten entsteht aus einem ständigen Wechselspiel von Gefühlen, unsichtbaren Regeln und der dynamischen Kommunikation aller Beteiligten. Wir steuern davon einen Teil selbst und spüren gleichzeitig den Druck, den das System auf uns ausübt. Dieses Zusammenspiel macht den Kassenbereich zu einem beinahe automatisch ablaufenden Ritual – und genau deshalb funktioniert es (meistens) reibungslos.
Vom "Kassenkind" zum "Teamkind" – wie verhalten wir uns im Unternehmen?
Ich lehne mich mal entspannt aus dem Fenster und behaupte: "In jedem von uns steckt so ein Kassenkind: Wir alle haben irgendwann Menschen zugeschaut und gelernt, uns angemessen zu verhalten." Diese Erfahrung an der Kasse können wir jetzt auch in eine andere Form übertragen - zum Beispiel in den Alltag einer Organisation innerhalb eines Unternehmens. Dabei darfst Du für Dich gern mal überprüfen, wie oft du (vielleicht ganz unbewusst) das gleiche Muster an den Tag legst, das Du in der Schlange beim Supermarkt entwickelt hast. Manche Menschen rempeln in Meetings die anderen Teilnehmenden gerne verbal an - halten sich jedoch körperlich zurück: Weil sie im Fernsehen gelernt haben, dass man sonst silbernen Gelenkschmuck trägt. Aber psychisch draufhauen: Das geht - bis zur Beleidigungsgrenze. Viele Menschen hingegen geben sich Mühe, sind umsichtig, kooperativ, freundlich, vorausschauend - sie sind daran interessiert, das System funktional im Sinn- und Geldfluss zu halten, welches wiederum seine Systemteilnehmenden (z. B. eben jene Mitarbeitenden) im Sinn- und Geldfluss hält.
Eine kleine Merkhilfe: Was beeinflusst unser Verhalten?
Im Supermarkt war klar, dass wir unser Verhalten an äußeren und inneren Faktoren ausrichten. Genau das Gleiche geschieht im Unternehmen, nur dass statt der Kassenscanner-Sirene vielleicht ein Slack-Ping, ein JIRA-Prozess oder die rufende Chefin das Sagen hat. Hier die wichtigsten Einflussfaktoren:
- Kulturelle Skripte & Sozialisation: Genau wie wir als Kinder gelernt haben, stillzuhalten, während die Eltern an der Kasse zahlen, lernten wir vielleicht in der Schule oder in früheren Jobs, wie man sich in Besprechungen verhalten "muss". Ob Du brav und leise bist oder laut und kernig auftrittst - oder vielleicht aggressiv und destruktiv: In den allermeisten Fällen steckt ein erlerntes Muster dahinter.
- Soziale Erwartungen: Die Team-Kolleginnen und Kollegen sind Dein neues „Warteschlangen-Publikum“. Sie können still (oder weniger still) erwarten, dass Du pünktlich ablieferst, niemanden unterbrichst und Dich bei Terminen nicht vordrängelst. Ja, es gibt auch hier ungeduldige Blicke, wenn Du – sinnbildlich gesprochen – ewig im "Geldbeutel" kramst.
- Emotionale Faktoren: Beim Stress in einem Deadline-getriebenen Projekt verhalten wir uns oft ähnlich wie in einer überfüllten Kassenzone kurz vor Ladenschluss: Wer zu eng aufrückt, kriegt gut gewürztes Feedback – selbst wenn das gar nicht so gemeint war. Kommt dann noch Lärm oder Zeitdruck hinzu, schnellt das Gemüt bei vielen Menschen auf Anschlag. Wenn -aus welchen Gründen auch immer- schon immer alle Projekte zu enge Deadlines hatten, können sich aus dysfunktionalem Verhalten dysfunktionale Muster im Team entwickeln, die sich tief in den Geist der Organisation einschreiben können. Was vielleicht kurz esoterisch klingt, ist leider in vielen Unternehmen Alltag: Zum Beispiel kann ein Management-Team mit vielen dysfunktionalen Verhaltensmustern (dysfunktional in Relation zu einem wertschätzenden, humanistischen und dennoch betriebswirtschaftlich geprägten Umgang) eine komplette Organisation oder sogar das gesamte Unternehmen in eine Krise stürzen: Innerhalb kürzester Zeit steigt die Anzahl der Krankmeldungen, Menschen sind müde und erschöpft und sehen keinen Sinn mehr in ihren Handlungen. Was für eine unglaubliche Macht Verhalten doch hat!
- Rollen und Kontexte: So wie die Person an der Kasse ihre Rolle mit Tempo und Kundenfreundlichkeit verkörpert, füllt auch jede Person im Team eine spezielle Funktion aus: Teamleitung, Fach-Expert:in, Praktikant:in. Entsprechend anders tritt man auf, je nachdem, ob man "hinter der Kasse" oder "davor" steht. Das Spannende in Unternehmen ist: Menschen stehen in diesen vermaschten Netzwerken oft auf beiden Seiten der Kasse - je nach Funktion, Rolle und Kontext.
- Ungeschriebene Regeln: Nicht alles steht in der Geschäftsordnung. Mal ist es das "Meeting-Braucht-Agenda"-Gebot, mal ein kollegiales "Nie den Chef bloßstellen". Ähnlich wie beim "Nicht vordrängeln" an der Kasse stolpern wir oft erst dann über diese stillen Gesetze, wenn wir sie (meist unbewusst) brechen. Wer in größeren Organisationen tätig ist, weiß zum Beispiel, welche Hölle losbrechen kann, wenn man sich bei der Chefin "zwei Etagen drüber" über den eigenen Chef beschwert und diesen dabei auch noch umgeht.
- Selbstorganisation & Interaktion: In einem Unternehmen (ausser vielleicht bei der Bundeswehr) gibt niemand Befehle wie "Jetzt bitte nach links drehen und Artikel scannen!" - Du richtest dich automatisch nach deiner Umgebung. In vielen Umfeldern reicht ein sarkastisch-ironischer Spruch aus dem Kollegenkreis und schon balanciert die jeweilige Person ihr Verhalten neu aus.
- Erfahrungen und Lernprozesse: Hat man schon ein paar Mal erlebt, wie forsche Wortmeldungen im Meeting verpuffen, wird man sie vielleicht künftig vermeiden – so wie wir seltener quengeln, nachdem uns wahlweise die Eltern oder der Kassierer mal streng angeschaut hat.
Verhalten vs. Persönlichkeit
Ein großer Unterschied, der in Alltagssituationen gerne übersehen wird: Verhalten ist nicht gleich Persönlichkeit.
Während du Dein Verhalten an einem Tag sehr extrovertiert (oder völlig miesepetrig) zeigen kannst, bleibst du dabei immer noch du selbst.
Deine Persönlichkeit ist das stabile Fundament – zum Beispiel ein offener, hilfsbereiter oder eher zurückhaltender Charakter.
Ob du dann an der Kasse oder im Teammeeting den Alleinunterhalter machst oder dich dezent zurückziehst, hängt auch stark vom Kontext und Deinen bisherigen Erfahrungen ab.
Mir persönlich hilft die innere Vorstellung, dass die Persönlichkeit wie eine Bühne ist, auf der sich verschiedene Verhaltensweisen abspielen:
Nicht jede Szene gibt gleich Aufschluss über Dein ganzes Wesen - auch wenn Dich manche Menschen gerne für eine einzige Szene am liebsten lebenslang in eine Schublade stecken wollen.
Die Kasse als Vorbild fürs Team? Ja!
In einem Team finden wir viele Parallelen zur Supermarktkasse – nur dass du statt Süßigkeiten im Kassenregal nun Budgetziele oder Workflow-Prozesse hast:
- Kulturelle Skripte im Team: Zum Beispiel wird das Team häufig automatisierte Abläufe haben (so wie das Bezahlen an der Kasse): „Erst Daily-Meeting, dann Ticket-Übergabe, dann Feedback-Runde“. Sind diese Rituale erst mal gefestigt, laufen sie oft wie von selbst.
- Soziale Erwartungen & Gruppendruck: Typisch ist: „Wir fangen pünktlich an, wer zu spät kommt, zahlt ins Kaffeekässle.“ oder „Alle wollen, dass das Projekt reibungslos läuft – also lieber keine heiklen Fragen stellen.“ Hier sieht man, wie schnell ein Team seine kleinen „Grenzbereiche“ schafft, ähnlich wie die Warteschlange.
- Emotionale Faktoren & Stress im Projekt: Zeitdruck, unklare Anforderungen oder ein Kunde, der sich ständig umentscheidet – das kann die Stimmung anheizen wie ein voller Supermarkt an einem Samstagvormittag. Da reicht ein harmloser Satz wie „Könntest du mal ...?“ und es brennt die Luft.
- Rollenvergleich: Die Person in der Rolle der Teamleitung legt das Tempo vor, verteilt Aufgaben und ruft manchmal „Haltet den Kunden auf!“ (oder vergleichbar Drastisches). Der Rest versucht, nicht aus der Reihe zu tanzen, ähnlich wie bei der Kassenschlange: Wir sträuben uns ungern gegen sichtbare Autorität.
Von der Warteschlange zum Teamflow
Das Wechselspiel aus Verhalten, Erwartungen und Strukturen ist in beiden Kontexten ähnlich. Ob an der Kasse oder im Team – wir koordinieren uns weitgehend selbst, regeln Störungen und entwickeln dauernd unsere individuelle Rolle weiter. Weil wir als Menschen so drauf sind: Wir schauen, was die anderen tun, und passen uns an oder wehren uns dagegen.
So betrachtet kann ein Team fast noch mehr von der Kassenschlange lernen als andersherum. Weil wir in Unternehmen häufig annehmen, dass offiziell ausgeschriebene Regeln schon alles regeln. Die Realität aber zeigt: Die inoffiziellen, stillschweigenden Normen haben oft die höhere Wirkkraft.
Oder anders gesagt: Wer den Einkaufswagen mal so richtig genüsslich in die Hacken schiebt, sieht schnell, wie sehr Verhalten von lauter ungeschriebenen Gesetzen abhängt. Und genauso läuft es im Team: Hinter jeder großen Arbeitsanweisung schlummert eine ganze Batterie unausgesprochener Erwartungen.
Fazit: Warum wir im Unternehmen (fast) immer wissen, was zu tun ist – und doch überrascht sind
Auch im Team gilt: Wir tragen ein Repertoire an Einprägungen und Erfahrungen mit uns, das unser Verhalten lenkt. Wir wollen nicht anecken, doch manchmal tun wir’s. Wir wollen effizient sein, doch die emotionalen Faktoren spielen in jeder Phase mit. Wir übernehmen Rollen, geben uns Mühe, halten Abläufe ein – und sind perplex, wenn jemand zwischen den Reihen etwas anders macht.
Wer sich das bewusst macht, kann Konflikte besser verstehen und steuern. Denn genauso wie an der Kasse die Empörung auflodert, wenn sich einer „vordrängelt“, reagiert ein Team empfindlich auf Regelverstöße. In dieser Reaktion liegt aber enormes Lernpotenzial: Wir hinterfragen, warum bestimmte Normen existieren und ob wir sie sinnvoll finden. Letztlich zeigt uns das Kassenkind, wie sehr wir alle Teil eines sozialen Systems sind – im Supermarkt, im Unternehmen, im Team. Und manchmal auch, dass wir trotz aller Prozesse ein kleines bisschen Chaos brauchen, damit sich Neues entwickeln kann.